F. Metzger: Religion, Geschichte, Nation

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Titel
Religion, Geschichte, Nation. Katholische Geschichtsschreibung in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert - kommunikationstheoretische Perspektiven


Autor(en)
Metzger, Franziska
Reihe
Religionsforum 6
Erschienen
Stuttgart 2009: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
419 S.
Preis
URL
von
Staf Hellemans

Franziska Metzger (* 1974) ist eine junge, talentierte Schweizer Historikerin. Sie ist Lektorin am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Fribourg und ist seit 2003 Redaktionssekretärin der «Schweizerischen Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte». Sie hat in etwa 10 Jahren eine Vielzahl gediegener Beiträge und Sammelbände über die Geschichte des Katholizismus, vor allem in der Schweiz, publiziert – darunter mit Urs Altermatt den bedeutenden Band Religion und Nation, 2007. Mit Religion, Geschichte, Nation legt sie jetzt ihre Dissertation in Buchform vor.

Es ist ein sehr theoretisches Buch geworden und keine einfache Lektüre. Deshalb ist es wichtig sich die Ausgangsfrage von Franziska Metzger, die sich schon seit längerem mit theoretischen Fragen der Geschichtswissenschaft auseinandersetzt, vor Augen zu führen. Sie lautet: Mit welchem theoretischen Gerüst soll man heute die Geschichte des Katholizismus – und Geschichte überhaupt – schreiben? Es kann nicht mehr als engagierter Katholik geschehen, der Geschichtsschreibung in einem katholischen Koordinatensystem betrieb, wie vor 1960. Es kann auch nicht mehr als Modernisierungshistoriker sein, der in Religion und insbesondere im Katholizismus eine antimodernische Defensive gegen die Moderne sah. Die sozialhistorische Analyse des Katholizismus als Milieu und Subgesellschaft– das Anliegen ihres Lehrmeisters Altermatt – bietet zwar Anknüpfungspunkte, aber auch diese Kategorien sollen hinterfragt werden und die unterstellte Homogenität dieser Milieus kritisiert werden. Beeinflusst vom sogenannten cultural turn in der Geschichtswissenschaft, findet Franziska Metzger einen alternativen Bezugsrahmen mit einer konstruktivistischen und kommunikationstheoretischen Perspektive. Die Perspektive wird ausgearbeitet und anhand der katholischen Historiographie des 19. und 20. Jahrhundert in der Schweiz demonstriert, insbesondere in Bezug auf die Frage, wie diese Historiographie das Verhältnis von (katholischer) Religion, Geschichte und (Schweizer) Nation konzeptualisiert hat. Dass die ständige Hinterfragung aller Begriffe und theoretischen Perspektiven heute im Zeitalter des «Endes der grossen Erzählungen» (Stichwort «Postmodernismus ») auf reges Interesse stösst, wird sicher auch mitgespielt haben in der Entscheidung von Franziska Metzger, die geschichtstheoretischen und historiographischen Grundlagenfragen zum Zentralthema zu machen.

Metzger will keine einfache chronologische Geschichte der Geschichtsschreibung des Katholizismus in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert schreiben. Es geht ihr um den begrifflichen und theoretischen Rahmen, die methodologischen Ausgangspunkte und die Präsuppositionen, die hinter der Geschichtsschreibung und hinter den Reflektionen darüber verborgen liegen. Das ganze Buch ist deshalb der Konstruktion eines grundlegenden Rahmens gewidmet, der imstande sein soll, die theoretischen, heute als problematisch erfahrenen Annahmen der katholischen Geschichtsschreibung und Historiographie zu Tage zu bringen. Sie findet diese Grundlage, wie gesagt, in einer aus den Sozialwissenschaften stammenden, vor allem auf Niklas Luhmann aufbauenden kommunikationstheoretischen, konstruktivistischen Perspektive. Geschichtsschreibung, so Metzger, ist eine Konstruktion von Diskursen, ist also Kommunikation. Genauer gesagt sind es Diskurse über Diskurse (Historiker benutzen ja die Diskurse der Zeitzeugen als Quellen). In der Sprache Luhmanns ist Geschichtsschreibung also eine Beobachtung zweiter Ordnung. Diese Idee bildet den Grundstein, auf den Metzger dann weiter baut. Kommunikation und Diskurse der Historiker finden statt in Wissens- und Kommunikationsgemeinschaften – und für katholische Historiker bildete die katholische Kommunikations- und Wissensgemeinschaft selbstverständlich die bedeutendste Referenzgruppe. Immer gab es aber mehrere Referenzgruppen (für katholische Historiker zum Beispiel auch die zeitgenössische Historikerzunft) und dazu auch Brüche innerhalb einer Gemeinschaft. Amalgamierungen und Überlagerungen von Diskursen – so von Religion und Nation und von katholischen und historiographischen (der Historismus!) Hintergrundannahmen – sind denn auch üblich. Metzger wendet sich auch der Diskursanalyse als solcher zu und unterscheidet mehrere diskursive Makrostrategien (wie Homogenisierung, Inklusion/Exklusion, Konfessionalisierung, Hierarchisierung von Wahrheitsebenen) und diskursive Mechanismen (wie Sakralisierung und Teleologisierung der Geschichte der Kirche und des Katholizismus), mit denen katholische Historiker und Geschichtstheoretiker versuchten ihre Diskurse zu plausibilisieren. So entfaltet sie in Teil II («Kultur als Kommunikation», 57–95) und in Teil III («Mechanismen der Kommunikation von Geschichte: Grundlagen für ein Analyseraster», 97–216) ein komplexes Analyseraster, mit dem sie dann in Teil IV die «Selbstbeschreibung der katholischen Geschichtsschreibung» (217–279) und in Teil V die «konkurrierende Amalgamierung religiöser und nationaler Diskurse» (281–326) erhellt. Wie die Zahl der Seiten zeigt, hat der Aufbau der theoretischen Perspektive und des Analyserasters aber Vorrang.

Das Buch Religion, Geschichte, Nation ist ein sehr ambitioniertes Buch. Franziska Metzger nimmt sich sehr viel vor. Sie erarbeitet eine neue, komplexe, sozialwissenschaftlich und philosophisch informierte Geschichtstheorie und nutzt sie für die Analyse der katholischen Geschichtsschreibung in der Schweiz. Sie behandelt eine Vielzahl historischer, sozialwissenschaftlicher und philosophischer Perspektiven. Über all diese Bereiche ist sie hervorragend informiert und bietet intelligente Überblicksdarstellungen, immer belegt mit Unmengen von Literatur (die Bibliographie der Sekundärliteratur zählt 55 Seiten).

Sie baut ihre Perspektive systematisch auf (obwohl Teil I mir im nachhinein überflüssig erscheint). Insgesamt finde ich die vorgetragene theoretische Perspektive und ihre Anwendung auf die katholische Historiographie und Geschichtsschreibung überzeugend – man kann nicht mehr hinter den Konstruktivismus zurück. Es bleiben aber auch einige Fragen. Erstens, der hochabstrakte und komplexe Argumentationsstil verlangt vom Leser viel (es erinnerte mich zuweilen an Luhmann’s Diktum eines «Fluges über den Wolken» in Soziale Systeme, 1984, 13). Zweitens sind der Vorschlag einer konstruktivistischen Perspektive und die Anlehnung an die (Luhmannsche) Kommunikationstheorie an sich nicht mehr neu zu nennen. Doch die weitere Ausarbeitung dieser Perspektive – der Blick auf sich überschneidende Diskursfelder, diskursive Makrostrategien und Mechanismen – und ihre Anwendung auf die katholische Geschichtsschreibung waren es für mich. Drittens: Die Aufgabe, die die Autorin sich in diesem Buch stellt und die nachfolgenden Aufgaben die sich daraus ergeben, werden aufschlussreich erhellt durch Abbildung 1 auf Seite 413. Franziska Metzger unterscheidet hier drei Reflexionsebenen. Die Quellen bilden als Zeugnisse vergangener Gesellschaften die erste Reflexionsebene. Die Geschichtsschreibung als Konstruktion vergangener Vorgänge und Gesellschaften bildet die zweite Ebene, die Historiographiegeschichte, die die Geschichtsschreibung beschreibt, die dritte Ebene. Man könnte sagen, dass Metzger – wie ihr soziologisches Vorbild Niklas Luhmann – sich noch höher wagt, nämlich auf eine vierte Ebene, die Ebene der Grundlagen der Geschichte und der Historiographiegeschichte. Es ist nicht leicht wieder von diesem Berg herunterzukommen. Das vorliegende Buch fragt also nach einem zweiten Buch, das nicht nur die Grundlagen der katholischen Historiographiegeschichte beleuchtet, sondern auch und vor allem die wechselhafte Geschichte – und die internen Differenzen, Spannungen und Kompromissstrategien – dieser katholischen Geschichtsschreibung konkret beschreibt. Und, noch wichtiger, nach einem dritten Buch, das die Folgen zieht und die Geschichte des Katholizismus neu schreibt. Man kann nur hoffen, dass Franziska Metzger sich dieser langwierigen Talfahrt widmen wird.

Zitierweise:
Staf Hellemans: Rezension zu: Franziska Metzger, Religion, Geschichte, Nation. Katholische Geschichtsschreibung in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert – Kommunikationstheoretische Perspektiven (=Reihe Religionsformum, Bd. 6), Stuttgart, Kohlhammer, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 104, 2010, S. 500-502

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